Ziemlich lose, wenn nicht sogar nutzlose Notizen zu Pop, Kultur und Gesellschaft

a.
Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Aus dem Klassenkampf zwischen dem sich konstituierenden Bürgertum und dem Adel geht die bürgerliche Gesellschaft hervor, die als erste Gesellschaft zumindest nominell dadurch charakterisiert ist, dass alle Menschen gleich sind (aber auch jeder Mensch, als Individuum, verschieden): Damit entsteht – im emphatischen Sinne – überhaupt erst: Gesellschaft, also eine alle Menschen, trotz ihrer unterschiedlichen Lebensbedingungen und damit auch unterschiedlichen Interessen umfassende Struktur; diese Struktur ist abstrakt und bekommt ihr konkretes Image (als Ausdruck ihrer Ideologie; Ideologie = notwendig falsches Bewusstsein): vor allem
• entweder in der Politik,
• oder in der Kultur.
(Auch deshalb bringt Walter Benjamin den Begriff der Kultur, wie er sich im 19. Jhd. im bürgerlichen Zeitalter verfestigt, mit der Phantasmagorie zusammen.)
Also: es entsteht (im 19. Jhd.) Bevölkerung, »Volk«, bürgerliches Bewusstsein. Kultur hat dafür eine Identität stiftende Funktion (ebenso: Bildung).

b.
Maßstab dieser Kultur ist die bürgerliche Lebensweise (beziehungsweise sedimentiert sich die bürgerliche Lebensweise als »Kultur«; Benjamin: Kultur ist Ausdruckszusammenhang).

c.
Diese Kultur (»Hochkultur«, »elitäre Kultur«) kann aber nur als Massenkultur gesellschaftlich wirklich werden (in den Museen, Konzert- und Opernhäusern, Salons etc.; mit dem Massendruck, schließlich dem Taschenbuch etc.).

d.
Eine solche Kultur kaschiert zugleich den Klassenwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft: Es sind alle Menschen gleich, aber sie sind nur als Bürger gleich; es sind aber nicht alle Menschen Bürger. »Kultur« hebt den Menschen in den Stand der Bürger, vermittelt Anteil an der bürgerlichen Lebensweise. Tatsächlich sind die meisten Menschen Ungleiche, frei nur in ihrer Unfreiheit, ihre Arbeitskraft zu verkaufen: sie sind Proletariat.

e.
Kapitalistische Klassengesellschaft: abhängig von den Produktionsverhältnissen; die Produktionsverhältnisse sind der Logik des Kapitals – dem Profitmotiv – unterworfen; Arbeit ist Lohnarbeit; verkauft wird die Ware Arbeitskraft bzw. als Arbeitskraft wird die Arbeit zur Ware. Klassenwiderspruch ist in die Produktionsverhältnisse eingelassen: der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital (Hegel: Widerspruch zwischen Arbeit und Genuss, Knecht und Herr); es gibt diejenigen, die die Produktionsmittel besitzen, und diejenigen, die nichts weiter (ökonomisch) besitzen als ihre Arbeitskraft.

f.
Im späten 19. und frühen 20. Jhd. verschieben sich Produktionsverhältnisse und Kultur gegeneinander. Die Produktionsverhältnisse werden durch die »Reproduktionsverhältnisse« überlagert; der Alltag erscheint nicht mehr – zum Beispiel auch in den (neuen) medialen Repräsentationen, in der Fotografie, in den Magazinen etc. – als Arbeitsalltag (in der Fabrik, als ökonomisches Verhältnis), sondern als Freizeit, als Kultur (bzw. kulturelles Verhältnis). Auch die Fabrik kann als Kultur beschrieben werden (so Berichte über die Fordwerke in den zwanziger Jahren).

g.
Es entsteht in dieser Sphäre des Reproduktionszusammenhangs eine neue Klasse: die Angestellten; ökonomisch sind sie »Proletarier«, nämlich Lohnabhängige; kulturell machen sie sich aber mit der herrschenden Klasse gemein, wollen bürgerlich sein, distanzieren sich jedenfalls von den »Proleten« (»Prolet« wird Schimpfwort).
Als allgemeine Kultur entsteht: die Angestelltenkultur. Sie verdeckt jeden Klassenwiderspruch.
Diese Angestelltenkultur ist das auch heute noch gültige Paradigma der »Kultur« (Alltagskultur, Mode, Verhaltens- und Lebensweisen, Aufstiegsphantasien, soziale Bedürfnisse, Figurationen des Individuellen, Wünsche etc.).

h.
In den fünfziger Jahren bekommt diese Angestelltenkultur ein Etikett: Pop.

i.
Jugend wird ab den fünfziger Jahren zur treibenden, kulturell und vor allem ökonomisch wichtigsten Gruppe. Klassencharakter der Jugend verschwindet langsam; die Jugend gleicht sich der Angestelltenkultur an, die Angestelltenkultur adaptiert »Jugendlichkeit« als zentrales Image.
(Heute lässt sich höchstens noch, zum Beispiel anhand der Kleidung, unterscheiden, ob jemand aus einem eher strukturell »armen« oder eher strukturell »reichen« Sozialmilieu kommt; aber auch das muss nichts heißen, wird in der Wahrnehmung durchkreuzt von stereotypen Zuschreibungen – häufig rassistischen, diskriminierenden, sexistischen etc.)

j.
Pop ist populäre Kultur.
Die Referenz für das Populäre ist die Angestelltenkultur.
Anders als die so genannte Volkskultur (die auch eine Erfindung des 19. Jhds. ist), basiert die populäre Kultur nicht auf Tradition (dabei handelt es sich wesentlich um eine, ebenfalls im 19. Jhd. installierte, »invented tradition«), sondern auf Verbesserung der Lebensweise, auf Innovation, ist in der Gegenwart auf Zukunft orientiert (und nicht auf Vergangenheit, wie es für die Volkskultur suggeriert wird).
Populäre Kultur beansprucht fortschrittlich zu sein; ihr Prinzip ist die Mode (während sich die Volkskultur auf Bewahrung, Fortführung des Alten kapriziert (Tradition = ziehen, führen …)).

k.
Die gesellschaftliche Grundlage der populären Kultur ist der Kapitalismus, das heißt eine entwickelte, Waren-produzierende Tauschgesellschaft, die sich selbst als Konsumgesellschaft versteht (am Konsum, an der Vielfalt des Warenangebots hängt zum Beispiel heute die politische Idee der Freiheit).
Pop = die Ware selbst wird zur Kultur.

l.
Im Pop wird die Massenkultur zur Individualkultur, zur Kultur des Individualismus.

m.
Die populäre Kultur wird »von außen« an die Konsumenten herangetragen; sie wird industriell gefertigt, ist angewiesen und immanent vermittelt durch technische Medien (Neue Medien, Massenmedien: Rundfunk, Kino, Schallplatte etc.).

n.
Zwischenbemerkung: Schallplatte keine künstlerische Form; Technik der Schallplatte bleibt der Musik gegenüber indifferent. Das ist entscheidend für ihren Warencharakter. In der Warenproduktion ist es von den technischen wie ökonomischen Verfahren ganz egal, ob auf der Schallplatte eine Beethovensinfonie gepresst ist, ein Album von Led Zeppelin oder Kinderlieder von Gerhard Schöne.

o.
Pop ist mehr als das Populäre.
Und: das Wort Pop ist nicht nur Abkürzung für »populär«, sondern signifikanter Ausdruck einer künstlerischen oder besser: ästhetischen Konfiguration (Pop Art).

p.
Wichtig: Pop ist kein wissenschaftlicher Begriff, kein Forschungskonzept. Vielmehr kommt das lautmalerische Wörtchen »Pop«
a) aus der Comicsprache (so wie »Bäng«, »Zack«, »Bumm«, »Knall« etc.).
b) aus der Reklamesprache (es gab Anfang der 1950er bereits zahlreiche Produkte mit dem Namen »Pop«).

q.
Popular Music gab es auch schon, bevor erstmals das Wort »Pop« im Kunst- und Kulturkontext auftaucht (1956).
Nachdem sich – in sehr kurzer Zeit, in den USA – der Begriff Pop Art etabliert hat, ist auch von Popkultur die Rede (Ende der 1950er, Anfang der 1960er). Im Zuge dessen wird nun ebenfalls von Popmusik gesprochen.

r.
»Kultur« ist im 19. Jhd. wesentlich getragen von der Leitkunst Literatur. Musik wurde meistens der Literatur und anderen Künsten untergeordnet (Ausnahme Schopenhauer). Kultur braucht objektivierbare Kunst; Musik zielt hingegen auf, so Hegel, »subjektive Innerlichkeit«.
Das ändert sich mit dem Pop: seit den fünfziger Jahren wird Musik mehr und mehr zur Leitkunst.
Das kulminiert in den 1970er Jahren. Siebziger: Hoch- und Kulminationszeit der Moderne, Umschlag der Moderne in Postmoderne. Disziplinargesellschaft verdichtet sich zur Kontrollgesellschaft.
Verallgemeinerung der Popkultur mit der Verfestigung der Kontrollgesellschaft, Verschiebung von Pop I zum Pop II (Diederichsen). Alles wird Pop – damit zugleich: Auflösung der Popkultur, Ende der Popmusik.

s.
Pop in der Kontrollgesellschaft:
• These 1: In der Kontrollgesellschaft verliert Pop seine Signifikanz.
• These 2: Auch »Kontrollgesellschaft« ist nicht mehr signifikant: Was »Kontrollgesellschaft« ist, definiert sich in Abgrenzung zur Disziplinargesellschaft. Die gegenwärtige Gesellschaft ist aber nicht mehr signifikant bestimmbar, bleibt »als Gesellschaft« indifferent.

t.
Pop und Kontrollgesellschaft werden diffus.

(Fortzusetzen.)

(77)